Dieses Kapitel soll Euch weder abschrecken noch (unberechtigte) Hoffnungen machen. Es kann Euch auch (positive und negative) Erfahrungen nicht ersparen. Wir sind nämlich der Meinung, dass gerade sie einen Auslandsaufenthalt so wertvoll machen. Allerdings wollen wir Euch anhand einiger persönlicher Zitate sowie deren Verallgemeinerungen vorführen, was Euch u.a. erwarten kann. Ihr fühlt Euch dann hoffentlich nicht mehr ganz so allein verantwortlich für gewisse Situationen, die unter Umständen kulturelle Gründe haben (oder dadurch noch verstärkt werden). Daher haben wir auch ‘interkulturelles Lernen’ als Schwerpunkt gewählt, für das ein solcher Auslandsaufenthalt hervorragend geeignet ist.
Wenn Ihr also mal Probleme habt, betrachtet sie als nicht unwesentlichen Bestandteil eines ‘trial and error’ Lernprozesses. Bei unseren Untersuchungen kristallisierten sich drei Phasen heraus, die wir Euch hier vorstellen wollen: "Kulturschock", "Auseinandersetzung mit der fremden Kultur" und "kulturelle Assimilation". Selbstverständlich handelt es sich dabei um nicht klar voneinander zu trennende Phasen, die der einzelne sicherlich mehr oder weniger stark ausgeprägt erlebt. Vieles hängt auch von den Rahmenbedingungen ab: ergeben sich gute Kontaktmöglichkeiten, werdet Ihr auch das Studium/die Kultur anders erleben, etc.
Irgendwann kommt der Moment, in dem man Souvenirs aus der Heimat, Abschiedsgeschenke von Freundinnen/Freunden, etc. hervorsucht und sich allein fühlt; alles scheint einem fremd: Sprache, Verhaltensweisen, selbst Straßenschilder oder die Müllabfuhr - man möchte weg. Dazu kommt dann vielleicht noch ein kalter, dunkler Winterabend und die "erbauende" Nachricht von zu Hause, dass der Freund/die Freundin nun von einer/m anderen gewärmt wird... In der (noch) anonymen Umgebung führen oft Banalitäten ein großes Unbehagen herbei.
Zitat:
"Zu meiner Eingewöhnung Phase gehörte auch eine Krise, die ich mit meinem Mitbewohner zu bewältigen hatte. Diese vollzog sich im November und zerrte stark an meinen Nerven. Wenn ich dann auch noch abends einen Anruf von Zuhause bekam, im Hintergrund die vertrauten Stimmen und Geräusche hörte, kam ich mir plötzlich ganz alleine vor."
Trotz alledem gehört die Einsamkeit zu Beginn des Auslandsaufenthaltes zu den wichtigen Erfahrungen, die gemacht werden müssen, um später die eigene "Beziehungsleistung" noch mehr würdigen zu können. Sie ist völlig normal, denn Vorschusslorbeeren hat man ja nicht. Im Prinzip beginnt man im Ausland ein neues Leben - mit allen Erschwernissen aber auch allen Chancen. Schwierig ist meist nicht der allererste Augenblick, in dem man sich noch sehr über die Eigenkultur definiert, schnell (aus welchen Zwängen heraus auch immer) irgendwelche Kontakte schließt, etc., sondern die Zeit des "Kulturschocks", in der man der neuen Kultur begegnet und sich ihr "ausgeliefert" gegenüber steht. Nun kann der Wille zur "Kooperation" noch so groß sein, die eigene Kultur/Sprache/emotionale Verfassung stellen in der Regel eine große Blockade dar.
Zitat:
"Les premières semaines en France étaient réellement horribles. A la cantine et dans la cuisine (les endroits où les premiers contacts se produisaient) je n’arrivais pas à suivre les conversations des Français. Quand ils chantaient «leurs» chansons ou parlaient d’événements politiques, je me sentais exclu. J’étais arrivé plein d’espoir et de motivation mais j’étais désillusionné très vite: au lieu de me faire un tas d’amis, je n’arrivais même pas à les comprendre, au lieu d’aller dans des écoles, on avait du mal à me trouver une place de stage, etc. En plus, je ne savais toujours pas ce qu’on attendait de moi. Je me sentais plutôt superflu car je devais constater que mon temps «précieux» s’écoulait pour des conneries (attendre, se renseigner, téléphoner, suivre des cours choisis arbitrairement, etc.). Je me sentais donc seul et isolé et je commençais à compter les jours."
In dieser "Rückzugsphase" besinnt man sich jedoch meist auf eigene Werte, die einem oft, allein oder durch Mithilfe anderer (ausländischer) Studierender, als Ausgangsbasis für eine ehrliche Auseinandersetzung mit der fremden Kultur dienen, aus der heraus es einfacher wird, Eigeninitiative zu entwickeln.
Kontakte in den Seminaren an der Uni sind schwer zu finden. Erfahrungsgemäß hat man schneller Kontakte zu den anderen ausländischen Studierenden als zu den französischen, die durch den Uni Alltag wenig Freizeit haben und oft auch am Wochenende zu ihren Eltern fahren (allerdings wird man feststellen, dass es besonders die französischen Studierenden sind, die selbst schon einmal im Ausland waren und daher wissen, wie man sich in dieser Situation fühlt, die sich öffnen und von sich aus den Kontakt suchen). Eine besondere Affinität zu den übrigen ausländischen Studenten ergibt sich schon aus der vergleichbaren Situation, in der man sich befindet: Probleme mit der fremden Kultur und die Entfremdung oder die Betonung der eigenen - die die Franzosen und Französinnen, sofern sie nicht schon selbst im Ausland waren, ja nicht bemerken - können angesprochen und diskutiert werden, und zwar ohne Angst, etwas Falsches zu sagen; man bewegt sich ja auf "bekanntem Terrain". Dadurch kann eine gewisse emotionale "Stabilisierung" erreicht werden, die Voraussetzung dafür ist, sich mit der fremden Kultur auseinanderzusetzen.
Zitat:
"Quelle chance de faire la connaissance des autres étudiants étrangers. De septembre à décembre on était huit étudiants Erasmus: deux Anglaises, deux Autrichiennes, une Danoise, deux Allemands et un Finlandais. D’abord timidement mais très vite d’une connaissance profonde on se donnait rendez-vous, on faisait des fêtes, on rigolait (pendant les cours à l’IUFM - surtout sur les coutumes françaises), on parlait de nos problèmes communs, on sortait le soir, on faisait du sport, on chassait les moustiques ensemble... - peu importe que le niveau de Français variait beaucoup. Dès le début j’avais trouvé en Pasi, le Finlandais, un très bon copain de façon qu’on sortait toujours ensemble. Ainsi, on a fait des tours en ville, dans la région et, plus tard, dans le pays (un grand tour de France et d’Espagne en dix jours pendant les vacances de la Toussaint pour rendre visite à des copains et copines qu’on avait connus à l’IUFM). Nous prenions le petit-déjeuner et les autres repas ensemble (le dîner à dix-huit heures - spécialement pour garder notre identité). Dans de nombreuses conversations dans le couloir, des chambres ou la cuisine - parfois très personnelles et normalement après avoir chanté et joué de la guitare - les étrangers essayaient de trouver leur place par rapport aux nouvelles impressions... On parlait des coutumes dans les différents pays, etc."
Die Suche nach dem "Bekannten"/dem "Ähnlichen" vollzieht sich teilweise auch über Urlaubs-und Brieffreundschaften, Besuch aus der Heimat, Bekannte etc. vor Ort. Dennoch sollte man sich davor hüten, nur unter Ausländern zu bleiben (und womöglich Englisch/Deutsch... zu sprechen). Erfahrungsgemäß schreckt ein Auftreten in größeren, als Ausländer erkennbaren Gruppen eher ab. Außerdem lässt sich so schwerer erkennen, dass man Kontakt zu Einheimischen sucht.
Viele Universitäten bieten ein umfassendes Freizeitangebot (Skifreizeiten, Wandertouren, Sportprogramme, Musik, Theater...) an, und auch vom Auslandsamt der Uni werden Tagesausflüge in die Umgebung organisiert. Bei diesen Freizeitangeboten lernt man schnell gleichgesinnte französische Studenten kennen. Es empfiehlt sich, auch als Fortgeschrittener die Anfängerkurse zu besuchen, da sich dort noch keine ‘eingeschworenen’ Cliquen gebildet haben.
Zitat:
"Ich habe einen von der französischen Universität organisierten Ski-Anfängerkurs in Chamonix mitgemacht, was meinen Aufenthalt in Frankreich regelrecht umgekrempelt hat. Dort erst bin ich richtig mit französischen Studenten in Kontakt gekommen, da nur Ski- und Uni-Anfänger daran teilgenommen haben. Das gemeinsame In-den-Schnee-purzeln hat uns doch sehr verbunden, und z.T. eben nicht nur in dem Moment. Stattdessen halten sich einige Freundschaften bis in die Zeit nach der Rückkehr."
Allgemein gilt die Devise: Nicht lange fackeln oder schüchtern sein, sondern keine Angst davor haben, Leute anzusprechen! Man hat nichts zu verlieren! Und: Nicht gleich aufgeben, wenn es mal nicht so gut läuft!
Ist man eine längere Zeit in einem anderen Land, übernimmt man automatisch einige Kulturgüter der fremden Welt, die es zu erforschen gilt. Und man möchte ja auch irgendwie dazugehören. Trotzdem nimmt man natürlich seine Persönlichkeit mit ins neue Land und gerät somit hin und wieder in Situationen, in denen eine Assimilation bzw. kulturelle Annäherung nicht so recht klappt. Unsere eigene Kultur hat uns eben doch stark geprägt. Man ist sich dessen nur nicht so bewusst, bis eben diese gewissen Situationen da sind.
Manchmal werden sie sogar gewollt herbeigerufen, man erinnere sich an den Ausspruch:
Zitat:
"Nous prenions le petit-déjeuner et les autres repas ensembles (le dîner à dix-huit heures) - spécialement pour garder notre identité."
Oder es passiert völlig unerwartet:
Zitat:
"Einmal passierte mir etwas Unglaubliches im Centre Commercial. Ich will dort im Carrefour Bananen kaufen. Eine Verkäuferin eilt auf mich zu, entreißt mir die Bananenstaude, wiegt sie aus und lässt sie in einer Plastiktüte verschwinden. Ich sage ihr, ich möchte keine Plastiktüte. Sie erwidert, ich müsse aber eine nehmen. Ich will den Grund dafür wissen. Sie sagt, die Bananen könnten mir herunterfallen. Ich antworte, dafür bräuchte ich doch keine Tüte. Sie sagt, dann gibt es eben keine Bananen. Und ich bin um eins klüger: ‘Avec Carrefour, je positive’ ( Werbeslogan für Carrefour ) - aber nur auf Kosten der Umwelt - und ohne mich. Der Araber im Tante Emma Laden um die Ecke ist eh viel netter."
Konfrontationen mit Menschen aus anderen Kulturen sind normal. Ein jeder von uns hat Vorurteile sprich Stereotypen im Hinterkopf. Die z.T. einseitige Übermittlung von Nachrichten durch die Medien spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Ähnliches spielt sich auch in Frankreich ab: ein Volk sieht oft die rechtsextremistischen Ausschreitungen in Deutschland. Das Thema rückt in den Mittelpunkt, und die Reaktionen den Deutschen gegenüber können so mitunter heftiger verlaufen:
Zitat:
"Manchmal hat man mir meine Herkunft deutlich vor Augen gehalten. Es passierte mir einige Male auf privaten Parties oder in der Métro, dass mich vor allem jüngere Leute sofort mit Rechtsradikalismus in Verbindung brachten, sobald sie erfuhren, dass ich deutsch bin. Nicht selten waren dann Äußerungen wie ‘Was, du als Deutsche studierst im Ausland?’ oder ‘Bei euch sind doch fast alle rechts.’
Wenn ich sie dann aber fragte, ob sie schon einmal in Deutschland gewesen sein, um sich selbst ein Bild über die ‘Zustände’ bei uns zu machen, mussten die meisten dies verneinen. Sie hatten sich ihre Meinung durch die Medien gebildet."
Steht man zu seiner Herkunft, sollte man sich ruhig auf Diskussionen einlassen. Durch Gespräche lernt man, und beide Kulturen können voneinander neue Einblicke gewinnen.
Manchmal will man sich anpassen und kann einfach nicht über seinen eigenen Schatten springen:
Zitat:
"In Lyon, der capitale de la gastronomie française schlechthin, wagte ich es einmal, eine besondere Delikatesse zu verschmähen: die berühmt-berüchtigten Froschschenkel...
Inmitten einer großen Runde von Franzosen soll ich nun da hineinbeißen, um wenigstens ein einziges Mal probiert zu haben. Und eigentlich bin ich ja auch für die Devise: Probieren geht über studieren. Aber wie kann ich es fertigbringen, in Frankreich den Frosch zu essen, den ich in Deutschland von der Straße errette? Zudem hatte ich erst kurze Zeit davor einen Bericht über die Tierquälerei von Fröschen in Afrika gesehen, die anschließend in die Nahrungskette gelangen, und der hatte mir da schon den Rest gegeben.
Auf Drängen der anderen hin, die mir auch wirklich keine Ruhe lassen, sage ich also, was ich gegen diesen "kulturinarischen" Leckerbissen einzuwenden habe. Alle sind erstaunt, darüber hatten sie noch nie nachgedacht. Und jetzt kann ich’s ja sagen: mich hat es auch einfach davor geekelt, in den Frosch zu beißen."
Das Hin und Her zwischen den Kulturen wird einem besonders beim Sprachgebrauch bewusst. So lassen sich z.B. bestimmte Dinge besser in der einen als in der anderen Sprache ausdrücken. Auch hat man manchmal das Gefühl des Hin- und Hergerissenseins beim Sprachwechsel, und man bekommt die einmalige Gelegenheit festzustellen, dass man sich im Prinzip zwei Identitäten durch das Benutzen zweier Sprachen aufgebaut hat:
Zitat:
"Ich war gerade so richtig drin im Französischen. Seit Tagen hatte ich ausschließlich mit Franzosen zu tun. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass es für mich jetzt normal sei, französisch zu reden, zu denken und sogar z.T. zu träumen. Ich hatte eben dieses Sprachgefühl entwickelt. Und dann passierte es an einem Wochenende in Monaco. Ich war dort mit einem meiner französischen Freunde. Er stellt das Radio an, und gerade läuft der deutsche Sender. Und ich verstehe plötzlich alles bis ins kleinste Detail, klar. Und mir wurde in diesem Moment der Unterschied zwischen dem Sprachverständnis klar, das ich für das Deutsche bzw. für das Französische hatte.
Plötzlich war ich wieder Ich, die "Alte" sozusagen. Und ich freute mich auf einmal, ‘mal wieder deutsch zu hören und alle Feinheiten einer Sprache mit zu kriegen. Und mir wurde bewusst, dass ich im Französischen und somit auch für meine französischen Freunde eine andere Identität hatte als im Deutschen. Man benutzt ja auch in den verschiedenen Sprachen unterschiedliche Worte und Floskeln, um das Gleiche auszudrücken. Doch häufig kann man die Gefühlsstimmung einzelner Worte und Ausdruck gar nicht mit übersetzen. Und es ist ein unbeschreibbar tolles Gefühl zu merken: ich kann in mehreren Sprachen fühlen."